Lehren aus dem Fall Wirecard: Dan McCrum im Interview
Der Fall Wirecard bringt alles mit, was ein Hollywood-Thriller braucht. Doch wie konnte es so weit kommen?
Es ist der Abend des 19. Juni 2020 auf einem kleinen Sportflugplatz in Österreich, 40 Kilometer von Wien: Jan Marsalek, ehemaliger Vorstand des Wirecard-Konzerns steigt in ein Privatflugzeug. Das Ziel: Minsk. Doch von dort verliert sich seine Spur. Das BKA sucht nach Marsalek per internationalem Haftbefehl. Insider vermuten ihn auf einem privaten, bewachten Anwesen in der Nähe von Moskau. Die 1,9 Milliarden Euro, die in der Wirecard-Bilanz fehlen, scheint es nie gegeben zu haben.
Die Geschichte über Wirecard bringt alles mit, was ein guter Hollywood-Thriller braucht. Doch handelt es sich um einen der größten Wirtschaftsskandale Deutschlands. Wie konnte es so weit kommen? Warum hat scheinbar niemand etwas bemerkt?
Der Mann, der Antworten auf diese Fragen liefern kann, ist Dan McCrum, Investigativ-Reporter bei der Financial Times. Er begann mit seinen Recherchen im Jahr 2014 und brachte das „House of Wirecard“ mit seiner gleichnamigen Artikelserie 2020 schließlich zum Einsturz. Auf der „European Compliance & Ethics Conference“ hat er nicht nur seine Geschichte erzählt, sondern auch darüber gesprochen, welche Lehren wir aus dem gigantischen Skandal ziehen können.
Lektion 1: Hinterfrage komplexe Firmenstrukturen
Wirecard startete im Jahr 1999 als Anbieter für elektronischen Zahlungsverkehr und versprach, dabei die beste und schnellste Technologie zu nutzen. Das damalige Startup wuchs sehr schnell, expandierte weltweit und erfand dabei Gewinne, die niemals existierten. So berichtet es Dan McCrum in einem Video über seine Wirecard-Recherchen auf der Webseite der Financial Times.
Wie war das möglich? „Wenn Du einen Betrug planst, so kannst Du von Wirecard jede Menge lernen. Zunächst: Mach‘ es so kompliziert wie möglich“, erklärt Dan McCrum. Wirecard baute um sich herum ein unübersichtliches Konstrukt aus Partner- und Drittunternehmen auf und überzeugte die Rechnungsprüfer davon, dass Wirecard eine ordentliche Provision für jede Zahlungsdienstleistung kassierte, die von den Partnern abgewickelt wurde. Das Geld floss jedoch angeblich nicht auf die eigenen Konten, sondern in Treuhandkonten. Am Anfang waren die erfundenen Gewinne noch relativ klein, wurden aber immer größer. Ende 2019, nach 20 Jahren im Geschäft, sollten auf diesen Konten laut Wirecard 1,29 Milliarden Euro liegen – die es jedoch offenbar nie gegeben hatte.
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Zu den VorträgenLektion 2: Hüte Dich vor der Shortseller-Taktik
Jede Art von Vorwurf konterte der Wirecard-Vorstand mit einem Gegenangriff und wiederholte diesen Mantra-artig: „Ihr wollt unseren Aktienkurs manipulieren und steckt mit Leerverkäufern unter einer Decke. Die Vorwürfe sind haltlos.“ Diese Taktik ging zumindest für Wirecard voll auf. 2019 erstattete der Zahlungsdienstleister Anzeige gegen die Financial Times, unter anderem wegen Insiderhandels. Im selben Jahr leitete die Staatsanwaltschaft München I ein Ermittlungsverfahren gegen Dan McCrum und seine Kollegin Stefania Palma ein. Dan McCrum erlebte es so: „Egal was wir geschrieben haben – es schien keine Rolle zu spielen. Am Ende ermittelten sogar die deutschen Behörden gegen mich. Sie leiteten eine strafrechtliche Untersuchung gegen mich und meine Kollegin ein. Das war sehr einschüchternd. Wirecard hatte Privatdetektive auf mich angesetzt (…), die den Eindruck vermittelten, dass wir mit Shortsellern unter einer Decke steckten.“
Erst im September 2020 wurde das Verfahren der deutschen Behörden gegen Dan MC Crum und seine Kollegin eingestellt. Unmittelbare Kontakte mit sogenannten „Shortsellern“ seien nicht festgestellt worden. Es hätten sich auch keine hinreichenden Anhaltspunkte gefunden, die die Verdachtsmomente hätten stützen können, so die Staatsanwaltschaft.
Lektion 3: Whistleblower brauchen einen sicheren Rahmen
Auch bei Wirecard gab es ein digitales Hinweisgebersystem, das jedoch vom Vorstand missbraucht wurde, um die eigenen Mitarbeiter zu überwachen. Ein Meldesystem alleine schützt Whistleblower nicht. Dan McCrum: “Es ist gut, wenn Sie ein entsprechendes Hinweisgebersystem haben, aber wenn der CEO oder der Finanzdirektor es nutzt, um den Hinweisgeber anzugreifen oder sogar herauszufinden, wer der Hinweisgeber ist, dann haben Sie ein Problem.“
Ein sinnvolles Compliance-Programm muss weiter gehen und dafür sorgen, dass das System nicht missbraucht wird.
Lektion 4: Verbrecher verstecken sich hinter einflussreichen Positionen
Dan McCrum hat noch etwas aus dem Skandal gelernt: “Die größte Lehre lautet, dass es Kriminelle gibt, die sich auf höchster Ebene der Wirtschaft und Gesellschaft und hinter dem Ruf anderer verstecken. Man kann Anwaltskanzleien beauftragen, man kann Compliance-Experten einstellen, um zu verbergen, was man vorhat. Sie können PR-Firmen anheuern, um Ihren Ruf zu schützen. (…) Nur weil ein Unternehmen von Außen schick aussieht, nur weil jemand einen Anzug und eine Krawatte trägt (…), bedeutet es nicht, dass er unschuldig ist.“
Auf der ECEC 2020 richtete Dan McCrum auch einen Rat an die Compliance-Experten: „Wenn Sie als Fachmann von einem Unternehmen angeheuert werden und feststellen, dass es keinerlei Compliance-Prozesse gibt, dass es keine entsprechenden Maßnahmen gibt (…), wurden Sie möglicherweise beauftragt, um dies zu beheben. Vielleicht muss dann die Frage gestellt werden: Warum ist noch nichts geschehen? Selbst wenn es sich um ein Unternehmen wie Wirecard handelt – ein Unternehmen, das zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast zwei Jahrzehnten tätig ist.“
Lektion 5: Es reicht nicht, sich auf die anderen zu verlassen
Warum hat im Fall Wirecard scheinbar niemand etwas bemerkt oder laut aufgeschrien? Eine Teil-Antwort auf diese Frage dürfte der sogenannte „Bystander-Effekt“ (Zuschauereffekt) liefern. Der Begriff beschreibt ein psychologisches Phänomen, das entsteht, wenn ein Unfall oder ein Verbrechen geschieht: Je mehr Augenzeugen zusehen, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass jemand eingreift und dem Opfer hilft oder Erste Hilfe leistet. Der Grund für dieses Verhalten liegt laut Forschern unter anderem daran, dass die Menschen einerseits Angst haben, sich zu blamieren und zum anderen davon ausgehen, dass jemand anderer Verantwortung übernimmt.
Eine ähnliche Ursache sieht auch Dan McCrum: „Jeder hat vermutlich die Tendenz nur die Arbeit zu machen, die auch tatsächlich nötig ist – vor allem in der Finanzindustrie. (…) Ich denke also, dass jeder davon ausging, dass es irgendwann irgendwo jemanden geben muss, der das Unternehmen überprüft.“
Lektion 6: Ab einer gewissen Größe fragt keiner mehr
Markus Braun und Jan Marsalek haben sich mit Wirecard ein undurchsichtiges Netz aus Subunternehmen und Drittanbietern gestrickt, hinter denen sie sich perfekt verstecken konnten. „Man fängt natürlich auch nicht einfach an und erfindet aus dem Nichts 1,9 Milliarden Euro. Wirecards Betrug begann mit kleinen Summen“, so Dan McCrum.
Mit der Zeit wuchsen die erfundenen Gewinne immer weiter. Ende 2019 war Wirecard ein DAX-Unternehmen mit einem angeblichen Wert von mehr als 20 Milliarden Euro – deutlich mehr als die Deutsche Bank. Wer will da noch Fragen stellen? Die Wirtschaftsprüfer von EY offenbar nicht. Die Banken, die Wirecard Kredite gewährt haben offenbar auch nicht. Die deutschen Behörden? Fehlanzeige! Außerdem: Kaum ein anderes deutsches Unternehmen hatte die Anleger in den vergangenen Jahren so reich gemacht wie Wirecard. Das ist vielleicht der beste Grund, um keine Fragen zu stellen.
Dieser Leitfaden erklärt übersichtlich, wie Sie erfolgreich eine Analyse der Compliance-Risiken in Ihrem Unternehmen durchführen